Blauäugig, dumm, aufsässig
von Sannah Koch
"Die Woche" vom 9. April 1998

Schulunterricht über Rassismus wird zum Selbstversuch in Sachen Diskriminierung

Wut, Empörung, Aufruhr: Die Atmosphäre im Klassenraum ist zum Zerreißen gespannt. Die Schüler pöbeln, grölen. Nicht alle, nur die in der Mitte, die gedrängt auf dem Boden und auf wackligen Stühlen hocken, sind aufgebracht. Ruhiger sind die Schüler, die zu beiden Seiten bequem Platz genommen haben. Sie müssen auch keine grünen Kragen tragen, denn sie sind braunäugig - die klügeren, fleißigeren, die besseren Menschen.

Die Blauäugigen benehmen sich schlecht, verweigern die Mitarbeit, widersetzen sich, sind Versager ... Verhaltensweisen, die Trainer Jürgen Schlicher präzise vorhergesagt hat. "Blauäugige sind dumm, faul und aufsässig. Das liegt am niedrigen Melaningehalt ihrer Augen", hatte er den braunäugigen Schülern erklärt, "ihr werdet es gleich sehen, wenn wir sie hereinrufen." Die Jugendlichen hatten ihm teils stumm, teils kopfschüttelnd gelauscht. Nun erleben sie, wie sich seine Prophezeiungen erfüllen.

Diskriminierung steht heute auf dem Stundenplan der Willy-Brandt-Realschule in Herten. Das Thema wird nicht theoretisch vermittelt, in der 9. Klasse wird heute sehr praktisch und gezielt diskriminiert. "Hinsetzen, Klappe halten, Beine zusammen!" Mit diesem Kommando beginnt für die eine Hälfte der Schüler der Montagmorgen. Mit einem grünen Kragen bekleidet werden die Blauäugigen in ein leeres Zimmer geschickt. Dort warten sie, fast eine Stunde lang. Niemand erklärt ihnen, warum. Nach dieser Stunde sind sie mürbe. Und werden danach - unwissentlich - alle negativen Vorhersagen erfüllen.

Keine Gehirnwäsche, keine Kinderquälerei, sondern einen Workshop namens "Blue-Eyed" erleben die Realschüler. Hier in Herten, einer Kleinstadt im Ruhrgebiet, ist der Anteil der türkischen Bewohner so groß wie das Ressentiment gegen sie. "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber Türken sind scheiße, die machen einen immer ganz übel an", lautet das Standardurteil der 9. Klasse. Klassenlehrerin Angela Winkelmann hatte versucht, dieser Haltung mit den gängigen pädagogischen Konzepten zu begegnen. Sie veranstaltete Projektwochen und Kurse. Doch ihre Schüler streikten. "Sie wollen doch bloß, daß wir positiv über Ausländer reden", hielten sie ihr vor. Jetzt hat die Pädagogin den Marburger Politologen Jürgen Schlicher angeheuert, der die Schüler Diskriminierung am eigenen Leib erfahren läßt.

Schlicher hat die Braunäugigen im Klassenraum mit Saft und Keksen empfangen. Nun gibt er Erklärungen ab: „Das Problem mit Blauäugigen ist, daß sie nichts lernen wollen. Sie hören nicht zu und vergessen alles sofort." Das sei wie mit Blondinen, nickt ein Junge, "die sind auch dümmer".

Dann werden sie in die Regeln eingewiesen: Als Braunäugige dürfen sie sich nicht mit den anderen solidarisieren, keine Erklärungen anbieten. Sonst droht die Degradierung zum Blauäugigen. Bei Diskriminierung, so erklärt Schlicher, gehe es um Machtausübung einer Gruppe. Deswegen müsse oben und unten klar getrennt bleiben. Die einen diktieren die Spielregeln, die anderen müssen sie einhalten: "Wir werden euren Mitschülern zwei Stunden lang zumuten, was andere Menschen ein Leben lang ertragen müssen; nicht nur Ausländer, sondern auch Behinderte, Homosexuelle, Frauen."

Die zwei nach Augenfarbe sortierten Gruppen erleben den Vormittag unter gänzlich verschiedenen Voraussetzungen. Die Blauäugigen bleiben uninformiert und werden bei allem benachteiligt. Sie erleben, wie es ist, auf der falschen Seite zu stehen, keine Chance zu haben jemals zu gewinnen. Die Braunäugigen erleben, wie willig sie sich in die Rolle der Privilegierten fügen. Die US-amerikanische Lehrerin Jane Elliott entwickelte das "Blue-Eyed"-Konzept vor 30 Jahren. Nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King sah sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, ihren weißen Schülern die Hintergründe des Attentats zu erklären. Sie waren noch nie mit Menschen anderer Hautfarbe oder sozialem Elend konfrontiert worden. Elliott erinnerte sich an die indianische Weisheit: "Bewahre mich davor, einen anderen zu verurteilen, bevor ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bin."

Das Rollenspiel funktionierte. Und zwar so durchschlagend, daß Elliott ihre Trainings heute in der ganzen Welt durchführt: nicht nur in Schulklassen und großen Unternehmen, sondern auch bei der US-Armee und dem Geheimdienst. 1997 schulte Elliott sieben Trainer in Europa, Jürgen Schlicher vom Dokumentations- und Informationszentrum für Rassismusforschung in Marburg war einer von ihnen. Nun führt er "Blue-Eyed" in deutschen Schulen ein.

Die Blauäugigen platzen wie eine Bombe ins Klassenzimmer: Laut und aggressiv weigern sie sich auf den ihnen zugewiesenen Stühlen Platz zu nehmen. Schlicher reagiert strikt: Seine Anweisungen sind unfreundlich aber nie aggressiv. "Nun seht ihr es" sagt er über die Köpfe hinweg, „Blauäugige können sich nicht einmal in Zweierreihen hinsetzen. Die blue-eyes grölen. Die brownies reagieren angespannt, unangenehm berührt. Doch keiner muckt auf. Blue-eye Mike versucht sich als Erster als Rädelsführer. Schlicher weist ihn in die letzte Stuhlreihe: "Ach, du spielst hier den coolen Chef!" Der Bursche wird rot und ist mucksmäuschenstill. Andere Blauäugige kämpfen länger - gegen die Anweisung, Plakate vorzulesen ("Blauäugige nehmen uns die Ausbildungsplätze weg, Blauäugige neigen verstärkt zur Kriminalität"); dagegen, sich "Zuhör-Regeln" diktieren zu lassen. Jedes Fehlverhalten wird kommentiert: "Seht ihr! Blauäugige können nicht einmal ..."

Nach kurzer Zeit ist der Klassenverband zerfallen: in die Privilegierten, etwas beklommen, aber weitgehend angepaßt; und in die Benachteiligten, ein teils zorniger, teils verzagter Haufen. Später kommt es hin und wieder zur Solidarisierung: Hinterrücks werden Kekse und Wasser gereicht, tröstende und ermutigende Worte geflüstert. Doch eine gemeinsame Machtprobe bleibt aus.

Nach zwei Stunden läutet Schlicher die Schlußrunde ein: Die Jugendliche sollen notieren, wie sie sich gefühlt und die anderen wahrgenommen haben. Danach wird diskutiert. Viele sind wütend, legen ihre Trotzhaltung nicht ab. Andere sind in sich gekehrt. "Das war die schlimmste Stunde meines Lebens", sagt Alexa. Und der blauäugige Peter, der die Übung als Braunäugiger mitgemacht hat, gesteht: "Ich habe mich braunäugig gefühlt."

Die blue-eyes sind nicht nur auf Schlicher wütend, sonder auch auf die Braunen: "Die haben sich doch total untergeordnet, uns angeguckt wie Dreck." Die wehren sich: "Wir haben uns scheiße gefühlt, dabei zuzusehen, wie der euch behandelt." "Und trotzdem hat es funktioniert", sagt Schlicher, "ihr Braunäugigen habt mich machen lassen, und ihr Blauäugigen seid trotz der Schikane im Zimmer geblieben." Nicht bei allen dringt Schlicher mit seinen Erklärungen durch. Die Wortführer bleiben bei ihren Parolen und dominieren die Gesprächsrunde.

Vier Wochen später, bei der Nachbearbeitungsrunde, hat sich das Blatt allerdings gewendet. Jetzt reden die anderen. Wie sehr sie sich immer noch darüber ärgern, daß sie ihren Freunden nicht beigestanden haben. Sie erzählen von rassistischen Vorfällen, die sie beobachtet haben. Sie sprechen auch über die Konflikte zwischen Jungen und Mädchen in der Klasse. Auf Schlichers Frage, wer meine, etwas gelernt zu haben, heben fast alle den Finger.